Anti-Flag sind ein wirklich verblüffendes Phänomen. Immer wenn man meint, sie hätten mit ihrem aktuellen Album Maßstäbe gesetzt, die so gut wie nicht zu toppen sind, schafften sie genau das bisher mit ihrem nächsten Streich. Mit jeder neuen Platte frage ich mich, wie lange das noch gut geht. Die Ankündigung, mit „American Reckoning“ ein Akustik-Album bereits bekannter Songs zu veröffentlichen, nahm ich mit gemischten Gefühlen wahr. Einerseits sind reine Akustik-Sets beziehungsweise -Alben für mich oft ein Format, das spätestens seit MTV Unplugged völlig ausgereizt ist und zunehmend seinen originellen Charakter verliert. Andererseits zählt gerade der Akustik-Instore-Gig der Band im Freiburger Plattenladen Flight 13 im Juli 2013 zu meinen absoluten Konzert-Highlights. Soll heißen: Wenn ich jemandem ein gutes Akustik-Album zutraue, dann den Jungs aus Pittsburgh.

Und da wären wir. „American Reckoning“ umfasst insgesamt zehn Songs, von denen sieben bereits auf den beiden Vorgänger-Alben „American Spring“ und „American Fall“ erschienen sind. Man merkt schon, dass Anti-Flag hier Wert auf eine gewisse Kontinuität legen, die mit „American Reckoning“ (zu deutsch: Abrechnung) einen Abschluss finden soll. Die Titelwahl der Alben zeugt davon, dass in den letzten Jahren viel in den Vereinigten Staaten passiert ist. Die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten kam für viele nicht nur schrecklich überraschend, sondern stellt die Demokratie sowohl national als auch international bis heute auf eine harte Probe. Anti-Flag, die bereits gegen George W. Bush und seine Politik vehement angekämpft haben, dürften in Trump einen neuen Endgegner gefunden haben. Nach der Wut und dem Schreck stellt sich bei progressiven Kräften weltweit eine gewisse Ernüchterung ein. So auch leider bei der Punk-Band aus Pittsburgh. Zumindest klingt das für mich so, obwohl die Jungs das sicher verneinen würden. Dieser Eindruck meinerseits entsteht nicht unbedingt dadurch, dass die Band keine richtig neuen Songs präsentiert, zumal drei Songs des Albums Coverversionen namhafter Einflüsse sind: „Gimme Some Truth“ (John Lennon), „For What It’s Worth“ (Buffalo Springfield) und „Surrender“ (Cheap Trick). Letztere sind durchaus würdevoll interpretiert, auch das ursprüngliche Material der Pittsburgher Punks ist satt produziert und druckvoll. Allerdings will der Funke nicht so richtig bei mir überspringen. Das liegt auch an der Auswahl der Songs: „American Attraction“, der wirklich fette Opener der letzten Platte „American Fall“, klingt vor allem im Refrain eher nach schunkeligem Folk und dadurch eher etwas cringy. Die übrigen Songs funktionieren zwar aufgrund ihres hohen Singalong-Faktors besser, an den Bums ihrer verzerrten Originale kommen sie allerdings nicht heran. „Brandenburg Gate“ bildet wiederum eine Ausnahme und überzeugt auf ganzer Linie.

So begeistert ich von der akustischen Live-Darbietung Anti-Flags vor einigen Jahren in Freiburg war, bin ich von „American Reckoning“ etwas enttäuscht. Live mag das wieder anders aussehen, aber als Studio-Version auf Platte brauche ich das nicht unbedingt. Anti-Flag haben letztlich selbst immer höhere Erwartungen bei ihren Fans geweckt, daher ist das jetzt vielleicht auch Jammern auf hohem Niveau. Ultras der Band wird das letztlich nicht abschrecken, ein Pflichtkauf ist „American Reckoning“ aber auch nicht.

[Spinefarm Records 2018]