Man muss nicht mal den Fernseher anschalten, um mitzubekommen, wie irre unsere Gegenwart teilweise ist. Hierbei ist das Internet Fluch und Segen zugleich: Einerseits bietet dieses eine bisher nie dagewesene Gelegenheit, sich und Informationen auszutauschen. Andererseits setzt dies einen kritischen Umgang mit Informationen und deren Quellen voraus. Mal ganz davon abgesehen trägt die Verschiebung gesellschaftlicher Kurse in Online-Räume zunehmend zur Verrohung ebendieser bei, was sich letztlich auch offline im Alltag niederschlägt. Als ob es da nicht schon stressig genug zuginge. Grund zum Sarkasmus gibt es also mehr als genug, wobei sich über das richtige Maß natürlich streiten lässt.
Der Wahlberliner Rapper Lemur (ehemals Teil des Rap-Duos Herr von Grau) entscheidet sich ganz klar für den Sarkasmus, zumindest auf seiner neuen Solo-EP „Die Herrschaft der Kakerlaken“. Mit dem Titel bedient Lemur zum Glück keine menschenverachtende Ungeziefermetapher, sondern meint ganz konkret die Krabbeltiere, die bei vielen Menschen Unbehagen und Ekel auslösen. An diese führt der Rapper nachvollziehbar hin: Während bestehende Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft wie Gentrifizierung („Späne“) bereits jetzt kräftige Wellen schlagen und polarisieren, ist es außerdem zunehmend verbreitet, wissenschaftliche Fakten anzuzweifeln oder sie „alternativ“ umzudeuten („Chemtrails“). Doch Lemur belässt es hier nicht dabei, sich einfach nur über diese Umstände sarkastisch auszukotzen, sondern rutscht zunehmend in die Dystopie ab („Die Herrschaft der Kakerlaken“). Und genau dort, wo die Apokalypse dann vollends zuschlägt, sind die Krabbeltiere schließlich im Vorteil und leben auf den Trümmern unserer Existenz weiter. Das ist wirklich düsterer Scheiß, aber von Lemur auf wirklich großartige Weise erzählt. Und Humor beweist der Rapper dabei auch noch, wenn er in „Späne“ beispielsweise sagt: „Der Herr hat den Kiez mit Investments gesegnet.“
„Die Herrschaft der Kakerlaken“ nimmt sich in gerade mal fünf Tracks jede Menge Zeit, eine Geschichte vom Verfall zu erzählen. Für Momente, in denen man angesichts der Umstände einfach nur kotzen möchte, ist die Lemurs EP eine mitunter bitterböse, aber sehr richtige Wahl.
[Kreismusik 2018]